JOËLLE LEHMANN
«100 THINGS STOLEN BY MY FATHER»
18.04. – 08.06.2014
VERNISSAGE 17.04.2014
100 schwarze Vierecke zeigen mehr als 100 Gegenstände, wenn das Leben ein Sammelsurium an Handlungen ist, eingefangen in beliebigen Objekten. Durch solche kontraintuitiven Ansätze weicht Joëlle Lehmann Trennlinien zwischen Leben und Kunst auf. Ihr Zugang ist ein persönlicher: 100 Dinge, die der Vater gestohlen hat, aufgesucht und festgehalten von der Tochter. In der DIELE werden die 100 Gegenstände einzeln nebeneinander gezeigt, wobei nur die Unterschriften auf die Realobjekte anspielen. Whirlpool, Kürbis oder Wintersalz sind bei der Künstlerin eingelagert und fotografisch dokumentiert. Doch selbst in den sprachlichen Verweisen lassen sich Vorlieben und Haltungen des Vaters erahnen, die aber erst im Zusammenspiel der Objekte augenscheinlich werden. Indes ist dieser Dialog nicht auf bestimmte Gegenspieler angewiesen, sondern findet in der Vielfalt und Beliebigkeit der Objekte statt. Ein Fenster oder eine Packung Risotto gibt nicht viel über den vermeintlichen Besitzer preis. Was interessiert sind die Gegenstücke Farbkübel und Christbaum oder Schildkröte und Treppe. Denn der Mensch kann nicht im Objekt gefasst werden, die Werthaftigkeit liegt im Prozess der Auswahl und Aneignung – die Gegenstände selbst sind austauschbar. Aus beiläufigen Gedanken oder angestrengter Planung wird ein Objekt herausgeschält, das den Beutezug widerspiegelt. Diesbezüglich lässt sich das Stehlen mit der Fotografie vergleichen. Ähnlich wie bei der Fotografie führt die Aktion des Stehlens zur Trophäe eines Augenblicks oder einer Überzeugung. Es sind solche Analogien, in denen Lehmann Kunst mit dem Leben gleichsetzt und den Vater zur Künstlerfigur erhebt. Die Tochter versucht sich das unkonventionelle Verhalten des Vaters zu erklären und findet die gleichen Muster in der Kunst. Das Stehlen ist nicht die einzige Befragungs- und Reaktionsstrategie, die an Aktionskunst erinnert. Immer wieder provoziert der Vater Mitmenschen und Umgebung durch unübliche Verhaltensmuster, die künstliche Handlungen mit alltäglichem Leben verbinden. Und wie die Bewegungen Happening, Environment oder Fluxus brechen diese Handlungen die Monotonie der gesellschaftlichen Norm – können aber erst im institutionellen Rahmen reflektiert werden. Mit dieser Ausstellung eröffnet Joëlle Lehmann einen Spielraum für fliessende Übergänge zwischen Leben und Kunst, Prozess und Objekt. Die eingeschwärzten Flächen sind einerseits ein abstrahiertes Porträt des Vaters, andererseits ermöglichen sie Gedankenfelder zur Interpretation von Realität. Sie zensieren die Handlung nicht mit konkreten Abbildungen, sondern beflügeln die Imagination. Die BetrachterInnen entwickeln Relationen zwischen den Gegenständen und stellen offenen Fragen ins Zentrum. Dennoch versteht Lehmann 100 things stolen by my father als fotografische Arbeit. Auch in anderen Fotostrecken überlässt sie die Perspektive auf die Welt nicht der eigenen Linse. Lehmann involviert ihre Familie oder Passanten, um das Leben als verworrene Realität zu zeigen. Um Letzteres zu demonstrieren, widersetzt sich die Künstlerin in dieser Arbeit dem intuitiven Abbildungsprozess und behält die Fotografien unter Verschluss. Die BetrachterInnen werden eingeladen, das Porträt mit Hilfe der schwarzen Vierecke weiterzuführen.
Das Buch zur Ausstellung wird ab dem 30. Mai 2014 an der Diplomausstellung der Zürcher Hochschule der Künste präsentiert. 100 things stolen by my father erscheint anfangs Mai im Vexer Verlag. Die gestohlenen Dinge können gerahmt in der DIELE gekauft werden, ebenso das Gedicht Pia und Urs von Joëlle Lehmann – die erste DIELE-Edition.
Mehr Informationen über Joëlle Lehmann (*1982 in Biel/Bienne): http://www.joellelehmann.ch/
Salome Hohl