DIE DIELE ZEIGT
PATRICIA BUCHER COCONTRA MARTIN G. SCHMID
29.04. – 31.05.2015 KURATIERT VON TANJA TRAMPE
Von ganz unterschiedlichen Interessen geleitet, forschen sowohl Fucking Good Art mit ihren Recherchen als auch Patricia Bucher und Martin G. Schmid durch die in ko- und kontra in den Schaufenstern vorgenommenen Eingriffe einem eigentlichen Rumoren der Archive1 nach. Während Nienke Terpsma und Rob Hameljinck bei einem vierwöchigen Aufenthalt im jurassischen Le Locle außergewöhnliches Archivmaterial zu den Anfängen anarchistischer Bewegungen und ihren Distributionswegen ermitteln und unter dem Titel SIDE-BY-SIDE als analoge Blogeinträge von 17 Wirten in acht europäischen Ländern zeitgleich veröffentlichen lassen, deuten die Fenster- Installationen hinsichtlich des Archiv-Begriffs auf Prozesse des Spekulativen.
COCONTRA korrespondiert zwischen den beiden Schaufenstern entlang einer verbinden- den Grundlinie afu Augenhöhe und geht dennoch von zwei divergierenden Bedeutungs- ebenen aus: einer artefakten und einer semiotischen. Signifikat und Signifikant – das Bezeichnete und das Bezeichnende – stehen Seite an Seite. Und dennoch gründen beide Spekulationen auf der Frage, auf welche Art und Weise etwas durch den
Lauf der Zeit zu bringen sei... Entgegen der ersten Annahme entlarven Antagonismen und ihre Materialisierung – etwa sichtbar/unsichtbar (Grundlinie), beschützt/ ausgesetzt (Erde), konserviert/verwaist (Fresko), erinnert/vergessen (Zeichen) – die Vorgänge des Speicherns und Archivierens als hochgradig ambivalent und un- sicher. Diese je ortsspezifisch und transformativ angelegten Baustellen zeitlicher Übertragung eröffnen zwei voneinander abgekoppelte, selbstreferenzielle Systeme, die auf archivarischer Spekulation gründen: »Die archivische Operation liegt nicht einfach darin begründet, eine immense Datenbank zum Sprechen zu bringen und dem Schweigen einer vergessenen Wirklichkeit schriftlich Stimme zu verleihen, sondern die Dinge einer überkommenen Welt in Material für eine noch zu fabrizierende Welt zu verwandeln.«2
Mit archivarischem Blick und durch Simulation einiger archäologischer Handgriffe stellt Martin G. Schmid Erkundungen zur Beschaffenheit eines Materials an, das in eine noch zu fabrizierende Welt transferiert werden soll. Seine Installation zeigt den Ausschnitt einer archäologischen Grabungsstätte, bei der die sogenannten Funde – in diesem Fall auf empfindlicher digitaler Technik und robuster Malerei basie- rende, auf ein Fresko hinweisende Bruchstücke – logischerweise nicht aus-, sondern eingegraben worden sind. Erde indes erscheint uns als besonders dauerhafter Zeit- speicher, dennoch ist seine Materie nicht vor Kontamination und Zerstörung ge- schützt. Und: was bewusst unter die Erde gebracht wurde – etwa ein Grab – ist, solange lebendig erinnert wird, nicht zur Ausgrabung bestimmt. Eingrabungen weisen gewöhnlich eher auf eine fragmentierte Kultur des Erinnerns hin denn auf eine archivarische Strategie der Sichtbarmachung. Durch explizite Offenlegung der nicht archäologischen Strategie sowie durch das Aufdecken der gesamten Szenerie hinter dem Glas – wie sie in archäologischen Grabungsstätten zwar auch angetroffen, jedoch nie als Gesamtbild preisgegeben wird – impliziert Martin G. Schmid eine
1 Wendung entnommen aus: Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive, Berlin: Merve, 2002
2 Michel de Certeau, L’espace de l’archive ou la perversion du temps; in: ebenda, S. 12
Gleichberechtigung von Fakt und Fiktion: Faktizität als Gewissheit von materiali- sierter Geschichte – Fiktion als manipulative Handlung, die durch das Vergraben bestimmten Artefakten bewusst eine Zukunft verspricht... Dem ebenfalls willentlich herbeigeführten Zerfalls- und Zerstörungsprozess liegen archivarisch-spekulative Gedanken zugrunde: Wie sollten denn Speicher und Objekte beschaffen und bezeichnet sein, um diese physisch und gedanklich in eine kommende Zeit hinüberzuretten? Und: in welcher Form lässt sich diese kommende Zeit materialisieren?
Die präzise gestempelten Zeichen auf Patricia Buchers Textilbehang hingegen folgen einer vermeintlich schlüssigen Ordnung. Eine stringente Linie trennt Sichtbares von Unsichtbarem und deklariert sogleich die Ausnahme: die Visualisierung des normalerweise Unsichtbaren (darauf weist etwa das Piktogramm des Fadenkreuzes im unteren Bereich subtil hin). Mit der Präzision einer Gebrauchsanweisung wird hier verschleiert, dass dem perfekten Verweissystem jedoch eine Trägerschaft fehlt, die es legitimiert und verortet. Während die Erde mit ihrer höchst konservierenden Eigenschaft unmittelbar auf die Kurzlebigkeit ihrer Eingrabungen – etwa Speicher- platten mit digitalen Daten – verweist, und somit auf die Vergänglichkeit unserer Hardware, suggerieren die paarweise organisierten Piktogramme einer fortschritt- lichen und von individuellem Sprachverständnis unabhängigen Kommunikationweise – die immaterielle Software – einen in konservatorischer Hinsicht zuverlässigen Zeitspeicher. Doch die Software ist nur solange entzifferbar, solange einerseits der Archivar noch Kenntnis von deren spezifischer Bedeutungsebene besitzt und andererseits ihr Signifikat, die Hardware, noch nicht in einen Zerfallsprozess übergetreten ist. Da Zeichen und Schrift zwar weniger anfällig sind als orale Sprache – doch als Verweise auch nie langlebiger als deren jeweilige Systematik –, werden sie diese weder transformieren noch überdauern können, sondern kommen als verwaiste Verweise immer und immer wieder neu in die Welt. Hinsichtlich der noch zu fabrizierenden Welt sind sie plötzlich die signifikanten Träger. Die Zeichen wechseln die Bedeutungsebene. Ihre perfekt konservierte Form zeugt von einstigen Zeitgenossenschaften und Erzählungen und davon, als eine von ihrem Original entkoppelte Übersetzung immer schon in die Zukunft hinein existiert zu haben;
wie einst der Stein von Rosetta.3
Mit den Artefakte im anderen Fenster verhält es sich gegenläufig: sobald sich nie- mand mehr erinnert und sofern keine verschrifteten Dokumente bekannt sind, können die außer Sicht- und Reichweite gelangten, nunmehr bestimmungsfreien Objekte allein mithilfe des Zufalls wiederentdeckt werden. Im Gegensatz zu den über lange Zeitspannen konsistent gebliebenen abstrakten Zeichen, erscheinen nun die Objekte als Inkonsistenzen. Wollen wir diese erneut in eine Erkenntnis-Ordnung einglie- dern, so benötigen sie nun ihrerseits einen Träger. Im Hinblick auf die Frage,
wie denn nun etwas tatsächlich durch den Lauf der Zeit zu bringen sei, wechselt – wie das ehemalige Zeichen – auch das einstige Artefakt seine Bedeutungsebene.
Der hier einmal durch physische und einmal durch subtile Einwirkung freigesetzte, spekulative Zerfallsprozess öffnet uns das Archiv als einen Imaginationsraum,
der unablässig »oszilliert zwischen einem Friedhof der Fakten und einem Garten der Fiktionen«.4
HERZLICHEN DANK AN: Livio Baumgartner, Oliver Gemperle, Isabel Gutzwiller, Rita & Peter Trampe, Verein Stadtrandacker. DIE DIELE wird unterstützt durch: Ernst und Olga Gubler-Hablützel Stiftung, Dr. Georg und Josi Guggenheim-Stiftung, Kultur Stadt Zürich, Fachstelle Kultur Kanton Zürich.
3 Der Stein von Rosetta trug maßgeblich zur Übersetzung der ägyptischen Hieroglyphen bei. Es handelt sich hierbei um eine als Fragment erhaltene steinerne Stele mit einem in drei Schriften (Hieroglyphen, Demotisch, Altgriechisch) eingemeißelten Priesterdekret. Die dreisprachige Inschrift aus dem Jahr 196 v. Chr. ehrt den ägyptischen König Ptolemaios V. und rühmt ihn als Wohltäter. Quelle: Wikipedia
4 Wolfgang Ernst, Das Rumoren der Archive, Berlin: Merve, 2002; Klappentext
DIE DIELE PRESENTS
FUCKING GOOD ART
«SIDE-BY-SIDE»ANALOGUE BLOG FROM LE LOCLE
(ON ANARCHIST ART, PUBLISHING & ARCHIVES)
1–30 APRIL 2015 CURATED BY TANJA TRAMPE
Fucking Good Art is a travelling artists’ magazine and an editorial project for research in-and-through art, made by Dutch artists/editors Nienke Terpsma and Rob Hamelijnck. They are interested in oral history, anthropology, documentary, modes of investigative art, counter- and sub-cultures, self-organising and
DIT (do-it-together), anarchism, and models outside the art market. They have a participatory strategy.
Die Diele is one of 17 hosts of Fucking Good Art‘s current analogue blog writings during their research stay in Le Locle/Swiss Jura in April. Their interest focuses early anarchism, archives and printed matter, in particular the Bulletin de la Fédération jurassienne. The blog is titled Side-by-Side and contains Rob's Side and Nienke's Side and is therefore also an experiment to show that Fucking Good Art is in fact consisting of two people having two singular voices.
Rob’s side: 2 April, Thursday, Le Locle (first entry)
Crossing the border between France and Switzerland you go through two holes in
the Jura Mountains. High above the tunnel is the Col des Roches canyon, in between hangs the Swiss flag. It’s like a rite de passage and reminded me of an experience we had on our traveling-residency for our Italian Issue in 2011. One day our guide was Elvino Politi, an archaeologist and director of Gruppo Archeologico di Terra d’Otranto. He wanted to show us how, in Apulia, for thousands of years long, series of conquests and influences have led to artistic innovation. We followed part of a pre-Christian pilgrimage route. In a small church, not bigger than a large shed, there was a ritual stone with a hole. There was nothing else in the space. The ritual for boys to become a man was to lie on the floor and crawl through the quite narrow hole, arms stretched, headfirst. Once they had performed this task they were re-born and could marry – I was scared to get stuck in the massive stone, like Winnie the Pooh in the Rabbit’s hole, and crawled out back- wards.
I read a rite de passage has three stages. In the first phase, you withdraw from your current status and prepare to move from one place or status to another. In the second phase you are on the threshold. You left one place or state but have not yet entered or joined the next. In the third phase you have completed the
rite and assumed your “new” identity, and you re-enter society with your new you. In our case I don’t know yet what we have become. If you go to the cradle of anarchism, you don’t automatically become an anarchist!
Nienke’s Side: 2 April, Thursday, Le Locle (first entry)
I thought it would be less scary to send this blog to only a few people we know, instead of out into the World Wide Web, but it turns out not to. It is personal now, a real social network. You’ll be expecting our mail and read what we write,
you will do the effort of printing it and putting it out, and after that we can’t change or correct—not like online. So I will try not to bore you or disappoint you, though I’ll try not to try to be entertaining either. Give us a few days to get into it, and please react if you want to, correct, comment, add, and associ- ate: every day there’s one sheet for replies from ‘other sides’/ other sites’.
We’re here in search of the traces of early anarchism, and especially the pub- lishing that came with it. We’ll focus on the famous Bulletin de la Fédération jurassienne, one of the first international anarchist newspapers, which was published here between 1872 and 1878. We want to know more about how these issues were made and distributed and by whom, and find more about the archives they
are kept in—which is almost like a second life cycle of distribution, keeping everything available. Last year when we spent some time in the wonderful CIRA* archive, we were struck by how familiar these pamphlets and bulletins seemed—in what we can maybe call their ‘material life’—to simple zine-making artists.
* CIRA (Centre International de Recherches sur l’Anarchisme) is a library of materials relevant to anarchist theory in all languages based in Lausanne. It was founded in 1957 in Geneva by Italian anarchist, artist, author and interpreter Pietro Ferrua and is now run by historian Marianne Enckell.
Hosting Side-by-Side
The distribution and publication of Rob’s and Nienke’s blog entries began on 4 April as an itinerant investigation while I was traveling in Serbia and Bosnia. In Novi Sad I was presented to Željko and Slobodan who run the alternative space Šok Zadruga (Shock Cooperative) by Sonja, who herself is a cultural scientist and curator. This artist collective acts through exhibitions, documentation and interventions by focusing on everyday processes, the border areas of art and cultural politics. Further, it acknowledges provocation as a starting point.
In 1993 the collective started as a guerrilla-art group acting through critical social and art practices by following the accelerated pulse of political changes in former Yugoslavia. Today, Šok Zadruga considers its conception as cooperative, and cooperative movement as the new articulation of fellowship and is further redrawing the assigned institutional and disciplinary frames, formulating uncon- ventional models of cooperation, replacing the periphery with centre and the basement with public space. Their current residence is located in one of those lively cobblestone passages in the town’s old centre and its shop windows appeared to me as an ideal site to start with the nomadic Side-by-Side-mission. When I moved on, Šok Zadruga became another permanent host of the analogue blog.
The onward distribution continued in Tuzla in Bosnia, a lively multi-ethnic post- industrial town, but with nearly 70% unemployed inhabitants! From 8 to 10 April, current entries were posted and discussed on the notice board of IPIA, an inter- national academy of computer sciences. Others I posted in the aged corridor of the general college of music and on one of many obituary boards neighbouring mosques.
From 12 to 30 April Side-by-Side is published at Die Diele: the current entries
in the public outdoor area, the column “other sites/other sides” in the hallway’s showcase. The group of 17 hosts in itself builds already a network of distributing (knowledge) and offers a direct output of the researcher’s investigations on anarchism.
The hosts of Side-by-Side are: Cabinet du livre d’artiste (Rennes FR), CAN (Neuchâtel CH), Cité des Arts (Paris FR), Die Diele (Zürich CH), EOFA (Geneva CH), Jubilee Warehouse (Penryn GB), KunstWerke (Berlin DE), Margin (Møn DK), MOTTO (Berlin DE), Musée des beaux-arts (Le Locle CH), Nomas Foundation (Rome IT), OOR (Zürich CH), Printroom (Rotterdam NL), Studio’s Plantage Doklaan (Amsterdam NL), Smooth Space (Buckfastleigh GB), Šok Zadruga (Novi Sad RS), Soundart Radio (Dartington GB).