Wann hat das alles begonnen? Es dauert, es fängt nicht an. Es wächst, aber wächst nicht heraus und schiebt den Anfang schon seit jeher vor sich hin. Wann beginnt es? Und beginnt es von Neuem, von vorne? Welche Körper sind es, in die wir uns begeben und aus denen wir nehmen. Und wann?
Ein Bekannter erzählte mir neulich von einer doch etwas seltsamen Begebenheit. So sei er vor gut zwanzig Jahren in die Karibik gereist. Nicht etwa um Badeurlaub zu machen, sondern weil er sich für Rum interessierte. Das heisst, er interessierte sich auch nicht wirklich für Rum, denn eigentlich ist er ein Whisky-Liebhaber. Und eigentlich interessiert er sich auch weniger für Whisky als Getränk, sondern mehr für dessen Destillationsprozess. Prozess wiederum ist auch etwas weit gegriffen, im Speziellen interessiert er sich nämlich für Destillen, also Brennapparate. Nun könnte man meinen, dass er als gebürtiger Deutscher genau im richtigen Land aufgewachsen sei. Doch das Gegenteil ist der Fall. All die Obst- und Kornbrennereien verwendeten meist nur zwiebel- oder pilzförmige Brennblasen, wobei wiederum, wie mir mein Bekannter immer wieder gerne erklärt Brennblase eh das falsche Wort sei, handle es sich doch eben gerade nicht um Brennblasen sondern um irgendwelche anderen Apparate, die kontinuierliches Destillieren ermöglichten, egal, Brennblasen, also solche in Art einer fetten Gans mit langem, dünnen Hals, solche Brennblasen wie man sie aus Schottland für die Herstellung von Malts kenne, solche Brennblasen gäbe es viel zu wenige in Deutschland. Sein Interesse ist vielleicht mit jenem von Modelleisenbahnsammlern oder besser eigentlich mit jenem von Trainspottern zu vergleichen. Er reist in der Welt umher um alte oder auch neuere, aber vor allem eben ältere, Brennblasen aufzusuchen und bildlich zu dokumentieren. Das heisst, er fotografiert die Blasen meist gar nicht, sondern zeichnet bloss ihre Silhouetten nach. Andere mögen vielleicht die Kurven von menschlichen Körpern, Häusern, Schriften oder Früchten, aber er, er stehe auf Brennblasen, sagt er gerne von sich wie von einem anderen. Nun hatte ihn dieses Interesse natürlich auch nach Surinam gebracht, das zwar geografisch nicht in der Karibik liegt, aber historisch und gerade wenn es um Rum geht, als karibisch gilt. In der ehemaligen holländischen Kolonie befand sich vor zwanzig Jahren gemäss seiner Aussage also die älteste, noch betriebene Brennblase des schottischen Herstellers Forsyths und die musste mein Bekannter also aufsuchen. Natürlich würde man also erwarten, dass die Destillerie an der sumpfigen Küste liegt, doch die Reise habe ihn tief ins Landesinnere gebracht, an den Prof.-Dr.-Ir.-W.-J.-van-Blommestein-See, einem Stausee, der von einem auf Java geborenen holländischen Wasserbau-Ingenieur errichtet, respektive berechnet wurde. Blommestein hatte schon in frühen Kinderjahren ein Faible für starken Alkohol entwickelt. Als uneheliches Kind eines Kindermädchens hatte er denn auch keinen leichten – im Vergleich zur wenn nicht unmittelbaren, so doch weiteren Umgebung vielleicht doch nicht gerade härtesten – Lebenseinstieg. Doch er trank nicht des Rausches wegen, ganz im Gegenteil. Wäre es ihm um die schiere Wirkung des Ethanols gegangen, so wäre es dem angehenden Ingenieur sicher ein leichtes gewesen, eine mehrkolumnige, mehrstufige Destille zu bauen, die schon nur jede Idee von Fuselöl weggebrannt und pures Ethanol hinterlassen hätte. Nein, es waren die Gerüche, die Blommestein scharf machten, und da Alkohol bekanntlich auch ein Nervengift ist, lohnte es sich gar nicht, all zu viel aufs Mal zu trinken, da nach dem dritten Glas eh alles ähnlich roch und schmeckte und also kam Blommestein nach seinem Stipendium an der technischen Hochschule in München und Karlsruhe und vor seiner Internierung durch die Japaner bei deren Besetzung Niederländisch Indiens nicht etwa mit deutschem Obstbrannt zurück nach Java, sondern reiste ganz im Gegenteil via Britannien, wo er sich die besagte Forsyth-Brennanlage beschaffte, die er dann während seiner Arbeit am Stausee in Surinam auch dort erstmals in Betrieb setzte, in der Hoffnung, der vergärten Zuckermelasse durch schonendes, zweifaches destillieren ähnliche Gerüche entlocken zu können, wie er sie von klassischen, nicht-rauchigen Lowland-Whiskys zu schätzen wusste, derentwegen er – ganz ähnlich wie mein Bekannter also – von den Münchner und Karlsruher Brennanlagen überhaupt nicht überzeugt war. Das sonderbare Vorkommnis, welches sich meinem Bekannten nun zugetragen hatte, respektive dem er beiwohnen durfte, hatte nun also gar nicht viel mit den Kurven der Brennblasen zu tun, die im Übrigen ganz ähnlich den Kurven des aufgezeichneten Destillationsprofils glichen, nein (und es waren auch nicht die kronenlosen Baumstämme, die wie nach einem Waldbrand noch immer lichte im Stausee standen), es war der Umgang mit dem Rauchen von getrocknetem Tabak. Weil die holländischen Kolonialisten immerzu pafften und die Surinamen nach der Unabhängigkeit ein Zeichen setzend dieses verboten, doch gleichwohl viele von ihnen selber heimlich weiter rauchen wollten, traf man sich dazu abends in Frauen. Denn entgegen der allgemeinen Annahme, sind einige Frauen in Surinam grösser noch als die bereits so hoch wachsenden Bäume in diesem Land und so verdienen sie sich nicht selten eine Nebeneinkunft damit, dass sie ihren Körper als unangemeldeten Barbetrieb anbieten. Selbstverständlich sei mein Bekannter erst misstrauisch gewesen, als ihm vor Ort davon erzählt wurde, da er indes aber das Rauchen einfach nicht sein lassen kann, habe er also schon am ersten Abend nach dem Weg zur nächsten Kneipe gefragt. Der Einstieg sei auch gar nicht so schwierig, man müsse bloss etwas den Kopf etwas einziehen und schon sei man im von Zigaretten- und Zigarrenrauch ausstaffierten Inneren.
23. August 2018
Patrick Savolainen